Mischa Kirisits ist Sozialarbeiter in Wien. Seit Jahren setzt er sich für inklusive Bildung, eine Bildungspflicht bis 18 und Behindertenpolitik ein. Aus sehr persönlichen Beweggründen.
Im Gespräch mit Doris Passler
Mischa Kirisits wünscht sich eine Bildungspflicht bis 18, fordert eine mutige Politik, ein Umdenken der Mitmenschen und Inklusion von Anfang an. Photo © Philipp Horak
Salon Profession: Zusammen mit deiner Frau hast du zwei Söhne. Der jüngere heißt Emil, ist 14 und hat Down Syndrom. Kürzlich hast du die Kampagne "Down Syndrom. Na und." am Wiener Badeschiff vorgestellt – mit prominenten Unterstützer*innen wie Vizekanzler Werner Kogler. Was bedeutet inklusive Bildung?
Mischa Kirisits:
Inklusive Bildung ist eigentlich ganz einfach: Wir alle gehen alle gemeinsam vom Kindergarten an in die gleichen Bildungseinrichtungen.
Das Problem fängt aber schon im Kindergartenalter an. Wir konnten uns für Emil nicht einfach den Wunschkindergarten aussuchen. Entscheidend waren nicht gängige Kriterien wie: Gibt es einen freien Platz oder passt die Meldeadresse?
Was musstet ihr beweisen?
Wir gingen zum Tag der offenen Tür und hörten: Schön, dass sie da sind, ABER sie müssen zuerst zur Bezirkspsychologin. Emil wurde begutachtet und dann wurde uns gesagt, welcher Platz für ihn in Frage kommt. Er war dann in einer privaten Kindergruppe.
Und mit sechs?
Da kam die nächste Hürde: Unser Sohn ist entwicklungsverzögert und war aus unserer Sicht noch nicht schulreif. Wir wollten, dass er noch ein Jahr länger in der Kindergruppe bleibt. Man bestätigte uns von mehreren Seiten, dass das die richtige Entscheidung sei. Da Emil aber wie alle Kinder in diesem Alter schulpflichtig war, mussten wir ihn zum häuslichen Unterricht abmelden, damit er weiter in die Kindergruppe konnte. Einen Monat vor Schulbeginn sagte eine Mitarbeiterin der MA10: "Das wird nicht bezahlt".
Es war eine Lücke im System.
Finanziert hat das Kindergartenjahr dann Licht ins Dunkel. Dafür sind wir dankbar. Fair und richtig ist es nicht.
"Aber..." habt ihr in Emil's Bildungskarriere oft zu hören bekommen. Was läuft falsch?
Wir mussten dem Kindergarten, der Schule, dem Hort immer aufs Neue beweisen, dass Emil hineinpasst. Nicht das System musste beweisen, dass es unserem Kind mit Down Syndrom einen regulären Bildungsplatz bieten kann.
Der Kampf um Inklusion setzte sich fort.
Emil sollte in die Geschwisterschule seines älteren Bruders. Eigentlich was Selbstverständliches. Nicht für uns. Wir mussten bis kurz vor Schulstart bangen, ob es genügend Anmeldungen von Kindern mit Behinderungen gab, damit die Volksschule einen Sonderpädagogen*innen-Bedarf genehmigt bekommt.
Mit Wahlfreiheit hat das wenig zu tun.
Man wird schnell beraten, dass es doch besser wäre, sein Kind in die Sonderschule zu geben.
An einer Regelschule könne man keine Betreuung und adäquate Förderung versprechen, so die Begründung. Laut neuem Regierungsprogramm soll es Verbesserungen geben.
Wir freuen uns, dass Vizekanzler Werner Kogler und Sybille Hamann von den Grünen als Bildungssprecherin auf unsere Kampagne "Down Syndrom. Na und." aufmerksam wurden und sich für das Thema einsetzen. Wir werden sehen, ob positive Veränderungen in dieser Legislaturperiode gelingen.
Wie ging es mit Emil weiter?
Mit zehn kam der Wechsel in die Neue Mittelschule. Da hieß es:
Schule ja, ABER in die Nachmittagsbetreuung kann er nicht.
Wir fragten uns, wie sich die Behörden das vorstellen? Meine Frau und ich waren berufstätig. Was sollten wir mit Emil nachmittags tun? Wir machten das Problem publik, bekamen Unterstützung vom Elternverein und starteten eine Onlinepetition, die ein integratives Nachmittagsangebot einforderte. 500 Leute haben unterschrieben. Das Lehrpersonal stand hinter uns. Wir gingen zum Stadtschulrat, doch der zuständige Beamte wollte vorerst nichts unternehmen.
Wie hat man im Stadtschulrat argumentiert?
Ich hatte mich in alle möglichen Gesetzestexte vertieft und war juristisch Experte.
Ich habe erklärt, welche Gesetze zutragen kommen. Der Beamte meinte, es gäbe kein Recht auf Nachmittagsbetreuung.
Damit hat er recht.
Schon. Nur ein Kind ohne Behinderung kann man einfach zur Nachmittagsbetreuung anmelden und die Behörde prüft, ob die Eltern arbeiten und ein Betreuungsbedarf besteht. Wir durften Emil nicht einmal anmelden.
Das war eindeutig diskriminierend.
Es gab schließlich Einsehen und Emil bekam den Platz. Für uns war das ein Durchbruch.
Kennst Du Fälle, wo das nicht gelungen ist?
Ja, leider.
Die Behörde hat leichtes Spiel, wenn Eltern nicht vehement dranbleiben und für die Bedürfnisse ihres Kindes kämpfen.
Ich kenne einen Fall einer alleinerziehenden Mutter. Sie wollte ihr Mädchen anfangs nicht in den Sonderhort geben. Die Frau hatte Migrationshintergrund und wollte keine Schwierigkeiten machen. Ihre Tochter betreute sie letztlich nachmittags selbst und musste dazu ihren schlecht bezahlten Job auf weniger Stunden reduzieren. Das ist eine Armutsfalle.
Gibt es Bundesländer, wo das besser geregelt ist?
Kärnten hat ein inklusives Schulmodell. Oberösterreich hat seit 25 Jahren Assistenzberufe. In Tirol sind manche Bezirke wie Reutte inklusiv. Aber ich bin jetzt kein Bundesländerexperte. In Wien werden Einzelfälle entschieden.
Du willst das System verbessern und auf Missstände aufmerksam machen.
Seit einigen Jahren engagiere ich mich in einer Elterninitiative und wir haben schon einigen Wind gemacht.
Wir organisierten große Diskussionsrunden an der Uni zu Inklusion, haben das Gespräch mit der Bildungsdirektion gesucht und machten auf die Probleme mit Nachmittags- und Ferienbetreuung aufmerksam.
Die Stadt Wien hat begonnen die Dinge zu verändern. Die Volksschule von Emil hat heute einen Integrationsschwerpunkt. Inklusion ist aber kein flächendeckendes Modell.
Generell sinken seit 2010 die Anmeldungen in Integrationsklassen. Wieso?
Viele entscheiden sich für die Sonderschule, weil sie sich bessere individuelle Förderung erhoffen. Doch wie soll Inklusion so gelingen? Unser Bildungssystem ist ein Fall für die Sonderschule.
Regelschulen und Kindergärten sind für Inklusion schlecht ausgestattet. Stattdessen wird viel Geld in Sonderschulen gesteckt. In Italien wurden Sonderschulen schon vor Jahrzehnten abgeschafft. Dort gibt es die Schule für alle.
Nach der vierten Klasse in der NMS wird Emil ab Herbst 2020 endgültig aus der inklusiven Bildungskarriere ausgeschlossen.
Das 10. und 11. Schuljahr kann er in einer Sonderschule besuchen, die seit Neuestem inklusive Schule genannt wird – ein Etikettenschwindel. Danach gibt es noch Projekte, wie z. B. On the Job von Wien Work. Dann ist es vorbei. Er muss Arbeit finden oder in ein Beschäftigungsprojekt, denn auch er hat eine Ausbildungspflicht. Allerdings wäre diese mit dem Besuch der Tagesstruktur – vormals Beschäftigungstherapie – erfüllt.
Ist die Sonderschule eine Einbahnstraße?
Ja. Wir alle müssen vom Anfang an miteinander leben lernen.
Ich kenne Emil seit der Volksschule. Er ist ein zauberhafter Bursche und bei Gleichaltrigen beliebt. Ihr habt ihn so gefördert, dass er selbständig wird.
Emil ist total alltagskompatibel.
Ich finde es wichtig, dass er den Umgang mit Gleichaltrigen lernt und umgekehrt alle den Umgang mit ihm.
In manchen Belangen ist er wie ein Sechsjähriger und dann wieder wie ein Jugendlicher. Er kann zum Beispiel Wege im öffentlichen Raum, die wir ihm gezeigt haben, alleine zurücklegen. Er kann sich artikulieren und sagen, wenn er etwas braucht. Er liebt Tanzen und Sport. Er kann aber noch nicht gut genug lesen und ich wünsche mir, dass er mit einer Bildungspflicht bis 18 dazu die Chance bekommt.
Was ist die Bildungspflicht bis 18?
Als Sozialarbeiter habe ich viele Jugendliche getroffen, die nach der Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen und schreiben konnten.
Es gibt zwar die Ausbildungspflicht bis 18, aber keine Bildungspflicht.
Was macht den Unterschied?
Schau mal. Es gibt Installateure, die zwar einen Beruf erlernt haben, aber keine Rechnung ohne Rechtschreibfehler ausstellen können. Und es gibt Kinder mit Behinderungen, die mehr Zeit brauchen, um Lesen und Schreiben zu lernen. Eine Bildungspflicht würde inklusive Angebote schaffen, wo sie das bis 18 nachholen können.
Das ist doch wichtig für eine Gesellschaft, sonst kann die Politik tun was sie will. Populismus hat nicht umsonst leichtes Spiel.
Emil ist gerade in ganz Wien auf Plakaten zu sehen. Er ist eines von fünf Gesichtern der Kampagne "Down Syndrom. Na und." Wer steckt dahinter?
Initialzünder war ein Treffen der Wiener Down Syndrom Community Anfang 2019. Marion Mayr von Grafikum und Philipp Horak, ein befreundeter Fotograf, zählen dazu.
Wir haben alle ein Kind mit Down Syndrom und haben festgestellt, dass uns dieses "Ja, ABER" an allen Ecken und Enden unheimlich anzipft. Dem wollten wir etwas entgegensetzen.
Dazu kam noch Tino Schulter, der mit mir in einer Band spielt und Werbetexter ist. Aus der ursprünglichen Idee wurde eine Werbekampagne mit Plakaten und Zeitungsanzeigen. Es gibt ein Positionspapier mit Forderungen an die Politik. Unsere Reichweite auf Facebook lag nach zwei Wochen bei mehr als 113.000 Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
Zur Kampagnen-Präsentation sind prominente Gäste gekommen. Neben dem Vizekanzler waren Burgschauspielerin Dorothee Hartinger, Behindertenanwalt Dr. Hansjörg Hofer, ORF-Journalistin Claudia Reiterer und Dok1-Filmer Hanno Settele unter den rund 200 Unterstützer*innen und Betroffenen. Die Stimmung war herzwarm und hat gezeigt: Inklusion tut uns allen gut.
Danke. Und ja, du hast recht.
Was fordert ihr?
Wir wollen, dass es selbstverständlich ist, dass Kinder mit Down Syndrom mit Gleichaltrigen und ihren Freunden den Kindergarten, die Schule und die Nachmittagsbetreuung besuchen.
Wir wollen, dass sie ohne Wenn und Aber willkommen geheißen werden, dass sie gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sind.
Was ist notwendig?
Eine mutige Politik. Ein Umdenken der Mitmenschen. Schulen und Kindergärten brauchen Unterstützung durch Assistenzberufe. Lehrpläne müssen individualisiert und alle Schulen gleich gut ausgestattet werden. Dann geht Inklusion von Anfang an.
Eine Behinderung würde keinen Unterschied mehr machen.
Weil wir lernen würden, miteinander zu leben. Wir würden selbstverständlich damit umgehen.
Viele Menschen ohne Behinderungen haben Angst vor Menschen mit Behinderungen. Das ist nicht notwendig.
Umgekehrt ist es auch nicht notwendig, Menschen mit Behinderungen ständig in Schutz nehmen zu wollen. Sie können einem auch ganz schön auf die Nerven gehen. Man könnte zum Beispiel einfach sozial kompatibel sagen: 'Deine Schreierei geht mir auf die Nerven. Auch wenn das deine Autismus-Spektrum-Störung ist. Hör auf damit.' Das wäre normal.
Mischa Kirisits ist ausgebildeter Sozialpädagoge und diplomierter Sozialarbeiter. Er hat Jugendliche an Brennpunktschulen betreut, im Bereich Kindertheater, Theaterpädagogik und soziokulturelle Animation gearbeitet und unterrichtet.
Fotos Präsentation Kampagne © Sophie Kirchner
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