Monika Halkort ist ungebändigt neugierig. Die ehemalige ORF-Journalistin erforscht gesellschaftliche Phänomene hintergründig, stellt Überlebensfragen, die mit Klimawandel und Migration einhergehen, und sieht in der Macht von Daten politische Sprengkraft. Der eindrucksvolle Werdegang einer brillante Denkerin.
Im Gespräch mit Doris Passler
Im Gespräch mit Monika Halkort im Wiener Café Möbel © Doris Passler
Salon Profession: Nach Wien, Hamburg, San Francisco, Berlin und London lebst du seit sechs Jahren in Beirut. Besuche in deinem Heimatort Wolkersdorf konfrontieren Dich mit der eigenen Geschichte. Du hast Deine Mutter getroffen. Versteht sie, was du tust?
Monika Halkort: Trotz unterschiedlicher Weltanschauungen und Lebenserfahrungen sind wir uns nahe. Ich, in der weiten Welt unterwegs. Sie, zeitlebens in einem Ort in Niederösterreich, der sich dem Weltgeschehen nur bedingt öffnet. Und dann sagt sie letztens:
Schöpfungsgeschichtlich wird das Verhalten Europas gegenüber den Menschen, die auf der Flucht sterben, nicht ungestraft bleiben.
Das hat mich überrascht und zugleich beeindruckt, denn es streift Fragen, die ich mir aktuell in meiner Forschungsarbeit stelle.
2015 besuchte ich Monika in Beirut. Es war bunt, laut, chaotisch, improvisiert. Die Spuren des Bürgerkriegs und das Aufeinandertreffen der arabischen und westlichen Welten an jeder Ecke sichtbar. Fotos © Doris Passler
Inwiefern?
Der Mittelmeerraum ist einer, wo christliche, islamische und jüdische Weltanschauungen aufeinandertreffen.
Gerade schreiben sich im Zuge der Migrationsbewegung bestehende Machtasymmetrien über das Management von Daten und vermeintlich ideologiefreie Technologien in die nächsten Perioden ein, setzen sich also fort.
Und auch, wenn meine Mutter alles andere als eine Intellektuelle ist, hat sie intuitiv verstanden, worum es mir geht.
Ist deine Mutter weltoffen?
Sie ist ungeheuer tolerant. Einzig mein Vater hätte mir vielleicht Grenzen gesetzt, aber nach seinem Tod ist auch diese Schranke gefallen. Geht es nach meiner Mutter, soll jeder leben wie er will. Dahinter erkenne ich aber auch Pragmatismus ganz nach dem Motto "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Irgendwann hat sie wohl beschlossen, die Sorgen oder Probleme ihrer Kinder nicht zu den eigenen zu machen. Das heißt aber nicht, dass sie uns nicht unterstützt. Ohne sie hätte ich mein PhD nicht machen können. Ich denke, dieses "nicht Nachfragen" macht sie letztlich zu einem unheimlich ausgeglichenen Menschen.
Lustig. Im Gegensatz dazu willst du alles wissen. War Journalistin dein Berufswunsch?
Diese Frage hat sich nie gestellt. Als Schülerin habe ich geschrieben und nichts für bare Münze genommen. Schon gar nicht, wenn es von Erwachsenen kam. Ich habe alles hinterfragt. Mit dieser Grundhaltung ausgestattet kam ich in den 80er Jahren zum ORF-Radio und später zum Fernsehen.
Ach ja, das war zu Zeiten von FS1 und FS2. Wir hatten nur zwei TV-Programme im ORF damals und keine Privatsender. Als die aufkamen, hat sich die Medienlandschaft massiv verändert - und deine Karriere war auf dem Prüfstand?
Mein Berufsweg war immer ein Ausreizen der letzten Nischen im Medienbereich.
In den 80ern gab es einen riesigen Schnitt. Plötzlich machten alle Fernsehen. Der Spiegel, DIE ZEIT, der Stern. Ich war und bin ja ein Kind des öffentlichen Rundfunks. Aber plötzlich waren beim ORF experimentelle Formate nicht mehr möglich und ich habe gekündigt. Der Quotendruck wuchs und es frustrierte mich ständig zu hören: "Tolle Sendung Frau Halkort, aber die Quote passt nicht." Ich war hoch verschuldet, hatte keine Ahnung wie es weitergehen soll und meine langjährige Beziehung stand auf wackeligen Beinen. Dann kam über Nacht die Einladung zum Jobinterview nach Deutschland. Als Fernseh-Redakteurin für das neue TV-Format der ZEIT. Ich nahm noch am selben Tag den Nachtzug. Die darauffolgenden vier Jahre in Hamburg waren ein echter Befreiungsschlag.
Befreiungsschlag, warum das?
Ich hatte zuvor mit meinem Lebenspartner eng zusammengearbeitet. Aber nachdem wir unsere Jobs beim ORF aufgeben hatten, wollte ich unabhängig werden, mich frei in der Medienlandschaft entwickeln. Das ist mir durch den Ortswechsel gelungen. Beim TV-Magazin der ZEIT wollte ich intellektuelles Fernsehen machen, wie in meinen Anfängen beim ORF. Es war eine unheimlich spannende Zeit.
Die Berliner Mauer war gefallen und Deutschland, das noch mit der Aufarbeitung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigt war, bekam den Kommunismus oben draufgesetzt. Gleichzeitig keimte die Neonaziszene auf, Migrantenheime brannten und ich konnte zeitgeschichtliche Themen bringen.
Zwar hatte die Redaktion tolle Schreiber und Denker, aber vom Fernsehen wurde wenig verstanden. Schließlich kam ich über ein kurzes Intermezzo bei Premiere, wo ich mit Dieter Moor an einem satirischen Medienmagazin experimentierte, wieder zurück zum ORF nach Wien. Mit Auslandserfahrung war ich jetzt gefragt. Nichts desto trotz hatte sich das Quotenthema längst ausgeweitet und Inhalt war keine Kategorie mehr.
Zeit für die nächste Nische?
Ja, genau. Damals etwas älter und klüger, habe ich nicht gleich gekündigt, ohne mich um etwas Anderes zu kümmern. Mitte, Ende der 90er kam das Internet auf und somit öffnete sich die nächste Nische innerhalb des Medienbereichs, wo Neues möglich war. Gerade in der Agenturszene mit Medien-Design beschäftigt, schlug der nächste Zufall zu:
Ich gewann in der Green-Card-Lotterie, ging nach Kalifornien und studierte eineinhalb Jahre Multi-Media-Studies an der San Francisco State University. Nebenher musste ich als Freelancer überleben.
Alles war furchtbar aufregend. Es herrschte eine irre Aufbruchsstimmung mit spannenden Leuten wie Louis Rossetto und Kevin Kelly, den Gründern des Wired-Magazins - der Bibel der New-Internet-Generation - oder dem Sozialwissenschaftler Howard Reingold. Theoretiker, Künstler und Wissenschaftler mischten nahtlos liberitäre Theorien mit Cyborg-Phantasien und kybernetischen Theorien. Mit diesen Leuten in den Californien Hills zu sitzen und über den Cyber-Space zu philosophieren war schon extrem nett.
Von analog bis digital hast du die Mediengeschichte bis in deine letzten Fasern durchlebt. Ein Luxus?
Ja. Es ging zwar nur mit vielen Durststrecken, Kündigungen, Jobben zum Überleben und ein paar Ersparnissen. Aber ich würde es keinen Moment anders machen.
Volles Risiko. Das ist die Lebensschule und Chuzpe, die einem der Journalismus mitgibt.
Langfristig wurde das Improvisieren aber anstrengend. Meine Kontakte zur Berliner Agentur-Szene ermöglichten schließlich den Wechsel zurück nach Europa. Ich arbeitete als Konzeptionistin, machte Medieninstallationen und Ausstellungsarchitekturen und inszenierte Zukunftsphantasien für globale Marken. Damit führte ich meine Erfahrungen aus der analogen und neuen Medienproduktion zusammen. Es war eine meiner besten Zeiten als Freelancer. Solange bis die New Economy Blase platzte. Ich hatte erneut keine Kohle, wusste, dass ich nicht zurück zu den alten Medien wollte und mir die Szene rund um die neue Medien zu eitel und chic wurde.
Ich mag kein Schnick Schnack im Arbeitsleben. Das einzige das mich interessiert, ist Inhalt.
Es brauchte wiedermal Plan B?
Ja. Der lautete: drei Jahre Fernstudium in Social Science kombiniert mit Postcolonial und Cultural Studies. Ich war unheimlich stolz, das geschafft zu haben. Finanziert habe ich mir den Spaß über einen Teilzeitjob als Web Content Developer für eine deutsche NGO und mit Radiokollegs für Ö1. Meine ORF-Kolleginnen und -Kollegen schätze ich bis heute dafür. Sie waren immer interessiert, was ich zu erzählen habe. Großartige Leute. Mit einem kleinen PhD-Stipendium in der Tasche schloss ich einen Master an und schlug meine akademische Laufbahn ein.
Auf Ö1 hast du immer wieder über den Nahen Osten berichtet und während des Masters Palästinenser-Camps im Libanon erforscht. Was hat dich daran fasziniert?
Camps wie Nahr-el-Barad nahe Tripolis im Norden des Libanons waren anfangs als politische Notlösung gedacht. Für Hundertausende Palästinenser wurden sie aber ein Dauerzustand. Wer die arabische Politik verstehen will - und das wollte ich - muss diese speziell aufgeladenen Räume verstehen: Die Camps haben de facto Souveränitätsstatus ohne formale Souveränität. Es gibt den politischen Habitus eines kolonial beherrschten Volkes und Nationalismus ohne Land und ohne politische Führung.
Seit 70 Jahren wurde die Palästinenserfrage unter ärmlichsten Verhältnissen ausgefochten und durch die Camps schrieb sie sich im Nachbarland Libanon ein.
Bis vor Kurzem drehte und wendete sich alles an der arabischen Politik an dieser Frage, die die beiden extremen Orientierungen des arabischen Raums zur Zerreißprobe machen: Den christlichen Flügel, der immer westlich ausgerichtet war und den muslimischen Flügel.
Letztlich führte die Art und Weise wie Religion dort politisiert und Ethnizität mit politischer Überzeugung und regionaler Verankerung gekoppelt wurde zu einer hochgiftigen Mischung.
2007 hast du die totale Zerstörung von Camp Nahr el Bared hautnah miterlebt. Was machte das mit den Menschen?
Das Camp wurde bei Gefechten zwischen der libanesischen Armee und der islamistischen Fatah-al-Islam, einem Vorläufer von ISIS, niedergebombt. Eine schreckliche Erfahrung für die Menschen dort, die erneut alles verloren hatten. In meiner Masterarbeit "The Architecture of Trust" fragte ich mich darum: Wie baut man so einen Ort, der nicht dokumentiert ist, der politisch und rechtlich komplett im leeren Raum steht, wieder auf? Grundstücksbesitz war informell geregelt, Ansprüche hatten die Palästinenser im Libanon keine und es gab keine Dokumentation aus der Zeit vor 2007.
Ich wollte wissen, wie sozialer Zusammenhalt unter so hochexplosiven Bedingungen, soviel Armut und Abhängigkeit von NGOs überhaupt noch gelingen kann. Dabei wurde mir die politische Sprengkraft von Daten klar.
Was hat Datafizierung dort ausgelöst?
Eine kleine Gruppe aktivistisch ambitionierter Architekten wollte den Ort auf Basis sogenannter "Oral History" genauso wiederherstellen, wie er vor der Zerstörung war. Das hatte Vor- und Nachteile:
Einerseits brauchte es Daten und Mapping, um das Camp wiederaufzubauen. Unterschätzt wurde aber, dass die Datafizierung von "Wer hat wo gelebt? Wie groß waren Grundstück und Wohnung?" eine Enteignung der gelebten Erinnerung der Leute bewirkte, die bis dahin das wichtigste soziale Kapital der Gemeinschaft war. Das hat die Community gegeneinander aufgebracht und wurde politisch ausgenutzt.
Inwiefern?
Plötzlich war durch das Erfassen von Daten das Wissen der Leute für verschiedene Interessensgruppen zugänglich - Architekten, UN-Angestellten, NGOs, Regierungen - und wurde auch gegen die Interessen der Palästinenser eingesetzt. Sie hatten ihr zuvor wichtigstes soziales Kapital verloren. Zu Recherchezwecken war ich während meinem Master immer wieder in Nahr el Barad und nahm mir letztlich eine Wohnung in Beirut und blieb.
#digitalearth Symposium 2019, Beirut Lecture von Monika Halkort
Seit 2013 unterrichtest du als Assistant Professor an der Libanese American University Medienethik und nimmst die Machtverhältnisse neuer Medien wie Facebook oder Google ins Visier. Warum?
Vor fünf Jahren noch gab es überhaupt kein Verständnis der Studierenden, welche Auswirkungen die Macht von Daten und Artificial Intelligence gekoppelt mit Suchmaschinen in den Händen privater Unternehmen auf die Gesellschaft ausübt, und dass das Demokratien gefährden kann.
Ich arbeitete mit fiktiven Gerichtsverhandlungen, wo Studierende Ankläger und Verteidiger waren und sich fragen mussten: Gehören Google, Facebook usw. unter stärkere staatliche Kontrolle? Heute gibt es für die Problematik zumindest mehr Bewusstsein.
Jetzt hast du eine Zusage für ein Fellowship am Orient Institut in Beirut der Max-Weber-Stiftung. Gratulation. Im kommenden Jahr wirst du dich mit Fragen befassen, die ich mir noch nie gestellt habe: den Verteilungskampf zwischen Sterblichem und Unsterblichem. Was meinst Du damit?
Plastikmüll beispielsweise ist auf Mikroebene unsterblich und bedroht die gesamte sterbliche Menschheit. Er ist aber auch ein Problem für das Überleben des Planeten, denkt man an Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere und Ozeane wie das Mittelmeer.
Nun waren ethische Vorstellungen der westlichen Kultur immer eng an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens geknüpft. Das schafft einerseits Sensibilität für die fragile Natur unseres Daseins. Zugleich steckt hinter diesem Ethikbegriff auch eine ungeheure Arroganz, weil er den Menschen über andere Daseinsformen stellt und ihm eine Sonderstellung als privilegiertes Subjekt einräumt.
Eine neue Dimension von Gerechtigkeit?
Plastikmüll und Klimawandel machen nun klar, dass wir uns diese Arroganz nicht mehr leisten können. Der Todeshorizont ethischer Vorstellungen hat sich auf den Planeten ausgeweitet.
Das meine ich, wenn ich sage, dass wir mit neuen Verteilungskämpfen konfrontiert sind: Die Frage von Gerechtigkeit dreht sich nicht mehr nur ausschließlich um die Verteilung beschränkter Ressourcen, sondern auch um die gerechte Verteilung von Giftstoff-Halbwertszeiten und toxischer Souveränität, die unseren Planeten in ganz anderen Zeithorizonten beanspruchen, als wir Menschen das tun.
Wie spielt hier Datafizierung hinein?
Mit der Überlebensfrage des Planeten werden christliche Weltanschauungen, die einer Idee von Endlichkeit folgen, abgelöst werden.
Meine These ist, dass Datafizierung dabei einen enormen Unterschied machen wird. Nicht nur, weil wir ganz unterschiedliche Möglichkeiten haben, die Dateninfrastruktur global zu gestalten, sondern sich die Substanz, an der ethische Verpflichtung gemessen wird, fundamental verschiebt: Es ist nicht mehr der Körper (Mensch) an sich das Maß, sondern seine datafizierte Entsprechung.
Kannst Du ein Beispiel geben?
Das Erfassen oder Nicht-Erfassen von Daten ist höchst politisch und wird neue Formen von Rassifizierung, Ausgrenzung, Auslöschung, Nicht-Sichtbarmachung hervorbringen.
Nehmen wir die nicht lückenlose Dokumentation des Sterbens im Mittelmeer. Dadurch wird deutlich, dass nicht in den Blick genommen wird, was sich der Datenerfassung entzieht. So ist eine Todesurkunde ein Menschenrecht, dem die Staaten im Falle der geflüchteten Migranten nicht nachkommen.
Während Fischer in Libyen provisorisch versuchen ihr Notwendigstes zu tun, um Tote zu bergen, übernehmen Staaten ihre Verpflichtung nicht. Werden Tode nicht identifiziert, gibt es keine datafizierte Entsprechung, was drastische Folgen für die Nachkommen hat: Witwen haben ohne Totenschein des Mannes in ihrer Heimat keinen Anspruch auf Grund und Boden.
Mit den technologischen Möglichkeiten von Computing wäre Datafizierung so einfach wie noch nie. Aber Datenbesitz bedeutet Macht und diese im Falle von Bevölkerungsbewegungen zu teilen ist für die meisten Staaten eine zu große Hürde. Dieses Beispiel beleuchtet nur einen Teilaspekt meiner Forschung. Es illustriert aber die enge Verschränkung von Datafizierung mit Machtasymmetrien, moralischen Vorstellungen und politischen Interessen.
Und damit sind wir dort angekommen, wo deine Mutter unlängst den schöpfungsgeschichtlichen Bezug zum Sterben im Mittelmeer nahm.
Genau. Ich möchte mir im nächsten Jahr anschauen, wie ethische Substanz neu gedacht werden muss, wem und was gegenüber wir über welchen Zeitraum verpflichtet sind? Ich denke, wir sind an einem überaus kritischen Wendepunkt angekommen, wo es nicht mehr nur um das Überleben der Menschheit geht. Es steht das Überleben des Planeten auf dem Spiel.
Dabei sind unsere Möglichkeiten, auf Risiken und Bedrohungen zu reagieren, von hoch komplexen, undurchschaubaren Rechenvorgängen abhängig, die sich demokratischer Kontrolle entziehen. Unser Umgang mit Datafizierung wird deshalb einen großen Unterschied machen.
Letzte Frage: Du hast dich von der Journalistin zur Wissenschaftlerin gewandelt. Gibt es Parallelen?
Als Journalistin war ich Übersetzerin und Medium. Ich betrachtete die Gesellschaft aus den Blickwinkeln von Experten, stellte Sichtweisen gegenüber und gab vielleicht eine Tendenz vor. Als Wissenschaftlerin gebe ich jetzt die Formel vor. Daran muss ich mich immer noch gewöhnen.
Comments